Corona – und die Kunst, sich anstecken zu lassen

von | 30. Juni 2020

Überall Corona. Zuhause im Radio, im Fernsehen, in den sozialen Netzwerken, unausweichlich präsent. Diese permanente Präsenz macht was mit mir und mit meinen Empfindungen. Es entwickelt sich eine seltsame Atmosphäre, wenn ich in der Öffentlichkeit bin. Wenn ich allein Sport in der Natur mache, dann empfinde ich Ruhe und merke von alledem nichts. Sobald ich in die Stadt komme entwickelt sich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich die Menschen mit Stoffmasken sehe. Viele Menschen möchten sich schützen. Sie haben Sorge, sich von der „unsichtbaren Gefahr“ anstecken zu lassen und fühlen sich mit den Masken erst einmal besser und sicherer.

Einkäufe sind zurzeit eine neue Erfahrung. Wir müssen uns nach wie vor an die Schutzmaßnahmen gewöhnen, das angenehme Einkaufserlebnis fehlt mir bei diesen Bedingungen. Ich erlebe Situationen, die mich nachdenklich machen. Mir fallen einige Verhaltensweisen auf, die ich als übertrieben empfinde.

Besondere Verhaltensweisen haben ihren Weg gefunden. Vor einem Lebensmittelladen kam mir ein Mann aus der Eingangstür entgegen. Trotz des Abstands von zwei Metern streckte er seinen Arm mit erhobener Hand nach vorne und mahnte sofort „Abstand halten!“. Bei ihm habe ich den Eindruck, dass er von einem hohen Anspruch zur Vorsicht angesteckt worden ist. In den Zeiten von Corona kann er seinen übertriebenen Hang zur Vorsicht in voller Inbrunst ausleben.

In der Kommunikationspsychologie von Schulz von Thun wird die Theorie der verschiedenen Persönlichkeitstypen beschrieben (2010). In Ausnahmesituationen kommen die starken Ausprägungen bestimmter Merkmale zur Geltung. Bei Menschen, die schon immer ein Augenmerk auf Ordnung und Sicherheit hatten, ist die Ansteckungsgefahr dafür gerade jetzt besonders hoch. Diese „Persönlichkeitstypen“ sehen jetzt die Chance für ihre Bühne, damit die Regeln und die Ordnung eingehalten werden.

Dieses Coronavirus ist unsichtbar und nicht zu greifen. Es kann überall sein. Besonders ältere Menschen fühlen sich verunsichert und ängstlich, gerade auch weil sie als Risikogruppe gelten. Das Gefühl der Angst bestimmt dann oft das Verhalten, es macht Stress, hilflos und schwächt die Abwehr. Das Immunsystem wird zunehmend schwächer. Doch gerade jetzt wird es für die Virusabwehr benötigt. Es bedarf der Fähigkeit, Vertrauen in die körpereigene Stärke zu haben und genügend Selbstvertrauen. Dann können wir uns trotz allem einiges zumuten, wenn wir uns an empfohlenen Regeln halten.

Es kann sein, dass wir uns von negativen Gesprächen beim Einkaufen oder in der Unterhaltung unter Nachbarn anstecken lassen. Manche Gespräche gleiten in negative Gesprächsmuster. Meistens sind es in der jetzigen Zeit die Themen: Entscheidungen der Politik, wirtschaftliche Unterstützungen, soziale Aspekte im zwischenmenschlichen Miteinander, Gesundheitsaspekte und so weiter. Wir gehen dann mit dem Eindruck nach Hause, dass im Moment alles ganz schrecklich ist – und wer weiß was alles noch kommt? Und die Politiker treffen Entscheidungen, die wir nicht nachvollziehen können. Da muss man doch mal drüber reden. Das kann man doch besser machen. Das, was im Moment passiert, kann doch nicht sein. Was soll denn werden? Wir können uns gedanklich in eine Abwärtsspirale begeben. Darin liegt eine Gefahr und wir empfinden alles als ganz schlimm und furchtbar.

Es gibt in dieser Zeit einen anderen Weg der Ansteckung. Ich kann mich von der Solidarität untereinander anstecken lassen. Von dem Gedanken „Wir schaffen das gemeinsam!“ Viel Neues entsteht gerade, was vor einigen Wochen noch undenkbar war. Menschen unterschiedlicher Generationen kommen zusammen, organisieren Projekte oder machen einfach etwas Kreatives, was andere Menschen erfreuen kann.

In der Arbeitswelt entsteht die Bereitschaft zum Homeoffice und vielleicht wird diese Arbeitsform in der Zukunft als hilfreiches Instrument zur Arbeitsgestaltung akzeptiert. Ich kann mich anstecken lassen, diese Form der Arbeit jetzt und in Zukunft zu nutzen. Bisher hielten viele Arbeitgeber Homeoffice für nicht praktikabel, weil die Rahmenbedingungen und die technischen Anforderungen zu hoch erschienen. Möglichkeiten nutzen, Offenheit für Neues, das stärkt unser Selbstbewusstsein und macht gute Laune.

Viele Menschen haben jetzt Zeit. Auf einmal leben wir bewusster und halten inne. Wir haben wieder Muße. Mitunter betrachten wir unsere Umgebung anders und erkennen einiges, das wir vorher noch nie wahrgenommen haben. Davon möchte ich mich unbedingt anstecken lassen. Auch von den Eindrücken in der Natur, die mir deutlich macht, dass es nicht viel braucht, um Freude zu empfinden. Ich möchte mich von der Ruhe anstecken lassen, die auf einmal da ist und dann einfach nur genießen.

Die aktuelle Solidarität, bringt viele Menschen zusammen, die sich vorher noch nie gesehen haben. Es entwickelt sich eine Lebensqualität, die wertvoll ist und glücklich macht. Davon lasse ich mich gerne anstecken.

Viele Menschen sind auf einmal offener und kommen über ungewohnte Wege in Kontakt, weil wir alle gemeinsam irgendwie „da durch“ kommen wollen. Von dieser Offenheit und Kontaktbereitschaft möchte ich mich ebenfalls anstecken lassen. Hoffentlich hält dieses Miteinander noch lange an. Es gibt so viel zu erleben und wir können in einem bestimmten Rahmen entscheiden, wie wir dieses Erleben füllen möchten.

Wir brauchen bei all dem auch unbedingt den Blick für die Realität. Viele Menschen kämpfen um die Existenz. Hier können andere, denen es gut geht, Unterstützung anbieten. Lassen wir uns einfach anstecken von der Freundlichkeit, der Gemeinschaft, der Offenheit, den Ideen, der Freude, den neuen Möglichkeiten und der Zuversicht, dass wir diese Zeit nicht erleiden müssen, sondern gemeinsam gestalten werden. +

Auch online erschienen als Kolumne in der Siegener Zeitung (bitte auf das Bild klicken):

Auch online erschienen als Kolumne in der Siegener Zeitung

Der Artikel ist ebenfalls erschienen im GESUNDHEITS KOMPASS Südwestfalen (Magazin der Siegener Zeitung) – Download der PDF-Datei hier:

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